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Der Rock der Mutter​

 

Es war einmal ein kleines Mädchen namens Elina, das immer Zuflucht unter dem Rock ihrer Mutter suchte. Wann immer die Welt zu groß, zu laut oder zu fremd wurde, kroch Elina unter den weiten, bunten Stoff, der sie wie ein sicherer Kokon umhüllte. Der Rock ihrer Mutter war ihr Versteck, ihre kleine Welt, in der sie sich geborgen und unsichtbar fühlte.

Der Rock war nicht irgendein Rock – er war genäht aus unzähligen Stoffstücken, die ihre Mutter über die Jahre gesammelt hatte. Jedes Stück erzählte eine eigene Geschichte: Das grüne Samtstück stammte aus dem Mantel, den Elinas Großmutter trug, als sie das erste Mal ihren späteren Mann traf. Ein leuchtend rotes Leinenstück erinnerte an ein Sommerfest, bei dem Elinas Mutter und Vater sich kennengelernt hatten. Das violette, bestickte Tuch war ein Überbleibsel aus einem alten Vorhang, der in dem Haus hing, in dem Elina ihre ersten Schritte gemacht hatte.

Ein weiteres Stück, zartrosa und seidenweich, kam von einem Taufkleid, das in ihrer Familie von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Es gab auch einen Streifen aus blauem Denim, der einst Teil der Lieblingsjeans ihrer Mutter war, die sie auf ihren vielen Reisen getragen hatte. Ein sonnengelbes Stück stammte von einem Schal, den ihre Mutter sich umlegte, als sie Elina das erste Mal in den Armen hielt, und ein dunkelbraunes Lederstück war aus der Tasche geschnitten, die ihr Vater auf seinen langen Wanderungen durch die Berge getragen hatte. Sie alle fanden ihren Platz in diesem Patchwork.       

Eines Tages, als Elina sich wieder unter dem Rock ihrer Mutter versteckte, bemerkte sie, dass der Stoff nicht mehr dieselbe Geborgenheit schenkte. Die vertraute Hülle schien plötzlich dünner und durchlässiger, als ob der Schutz, den sie immer verspürt hatte, allmählich schwand. Jetzt drangen die Geräusche von draußen deutlicher zu ihr durch: das gleichmäßige Dröhnen eines Lastwagens, das sich wie ein tiefes Grollen anhörte; das metallische Quietschen einer Straßenbahn, das durch die Straßen hallte; das laute, ungeduldige Hupen eines Autos im stockenden Verkehr. Auch die Geräusche der Passanten waren intensiver: das Klackern von Absätzen, das Trappeln von Schritten, das Drängen eines Verkäufers, der um Kunden warb; das scharfe Schimpfen eines Passanten über eine Verspätung; das fröhliche Lachen einer Gruppe Kinder, die auf dem Gehweg herumtollten. Ihre Mutter, die sonst still dastand und Elina in ihrem Versteck Zuflucht bot, legte sanft eine Hand auf den Rock und sagte leise: „Elina, mein Schatz, die Welt wartet auf dich.“

Elina wagte einen Blick unter dem Rand des Rockes hervor und sah, wie die Welt draußen leuchtete und flimmerte. Die Sonne schien warm und einladend, die Bäume wiegten sich sanft im Wind, und in der Ferne konnte sie die Stimmen anderer Kinder hören, die lachten und spielten. Doch die Welt war immer noch so groß, und sie fühlte sich so klein.

„Aber ich habe Angst, Mama“, flüsterte Elina.

Ihre Mutter kniete sich zu ihr hinunter, so dass sie beide auf Augenhöhe waren. „Ich weiß, mein Liebling. Aber weißt du, dieser Rock, den du so liebst, hat dich immer beschützt, weil er aus all den Geschichten besteht, die uns stark gemacht haben. Und jetzt ist es Zeit, dass du deine eigene Geschichte schreibst.“

Mit diesen Worten griff Elinas Mutter in den Rock und schnitt ein kleines Stück heraus – ein Stück eines blauen Seidenbandes. Sie band es vorsichtig um Elinas Handgelenk und sagte: „Dieses Band wird dich immer an das gute Gefühl erinnern, das dir mein Rock gegeben hat. Aber da draußen, da wartet jetzt soviel Neues auf dich.“

Elina hielt das Band fest und spürte die Wärme und Liebe, die es durchfloss. Es war, als ob das Band eine unsichtbare Brücke zwischen ihrer vertrauten Welt und der neuen, aufregenden Welt da draußen schlug. Langsam und zögernd kroch sie unter dem Rock hervor und blinzelte noch scheu in das helle Tageslicht. Die ersten Schritte waren unsicher, aber mit jedem weiteren Schritt wuchs ihr Mut.

Wann immer sie sich später Zeit nahm – bei einer Tasse Kaffee am Frühstückstisch, während ihrer morgendlichen Runden im Schwimmbad, an manchen Sommerabenden, wenn am Himmel die Sterne funkelten und sie in der Hängematte lag, beim Spaziergang durch die alten, vertrauten Winkel ihrer Stadt oder beim Blick aus dem Fenster an verregneten Tagen – tanzte sie in Gedanken im Rock ihrer Mutter durch Gassen und Straßen oder erhob sich in himmelblaue Lüfte.

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