Der Zwerg mit dem langen Arm
Es war einmal in einem kleinen, verborgenen Dorf tief im Herzen eines uralten Waldes, da lebte ein Zwerg namens Lorgo. Lorgo unterschied sich von den anderen Zwergen durch einen ungewöhnlichen Umstand: Sein rechter Arm war so lang, dass er damit die höchsten Äste der Bäume erreichen konnte, ohne sich auch nur auf die Zehenspitzen stellen zu müssen. Im Dorf hieß es, dass dieser lange Arm ein Geschenk der alten Waldgeister war, doch niemand wusste genau, warum Lorgo mit dieser Eigenart geboren worden war.
Lorgo selbst war sich seiner Besonderheit wohl bewusst. Er nutzte seinen langen Arm, um Früchte von den höchsten Zweigen zu pflücken, die sonst niemand erreichen konnte, und um kleine, verlorene Tiere aus schwindelerregenden Höhen zu retten. Doch trotz seiner hilfreichen Taten fühlte sich Lorgo oft einsam. Die anderen Zwerge tuschelten hinter seinem Rücken und manche Kinder erschraken, wenn sie seinen langen Arm sahen, der wie eine Schlange über den Boden kroch, wenn er ihn nicht nutzte.
Eines Tages, als Lorgo durch den Wald wanderte, stieß er auf einen alten, knorrigen Baum, der tief verwurzelt in der Erde stand. Der Baum war so alt, dass sein Stamm mit Moos überzogen war und seine Zweige bis in die Wolken ragten. Lorgo spürte, dass dieser Baum anders war als alle anderen. Er legte seine Hand auf die raue Rinde und im selben Moment vernahm er ein leises Flüstern.
„Lorgo“, raunte der Baum, „du bist gekommen, wie es vorherbestimmt war. Dein langer Arm ist der Schlüssel zu einem uralten Geheimnis, das tief in meinem Herzen verborgen liegt.“
Lorgo, verwundert und neugierig, fragte: „Was für ein Geheimnis?“
Der Baum erzählte von einem verborgenen Schatz, den die Waldgeister vor vielen Jahrhunderten in seinem Inneren versteckt hatten. Es hieß, dass nur jemand mit einem reinen Herzen und einem besonderen Geschenk diesen Schatz bergen könnte. Und Lorgo war der Auserwählte, sein langer Arm das Werkzeug, das die Waldgeister ihm gegeben hatten.
Mit neuem Mut streckte Lorgo seinen langen Arm aus und schob ihn tief in eine Öffnung im Stamm des Baumes, die zuvor niemand bemerkt hatte. Der Arm reichte immer tiefer, bis Lorgo schließlich etwas Hartes und Kaltes fühlte. Mit einem sanften Zug zog er einen gläsernen Kristall hervor, der in allen Farben des Regenbogens schimmerte.
„Dieser Kristall“, sprach der Baum, „enthält das Licht der Hoffnung und Freude, das den Wald beschützen wird. Mit ihm kannst du den Lebensfluss der alten Quelle lenken, aus der alle Bäume und Lebewesen ihre Kraft schöpfen. Tief verborgen unter dem Wald, wo niemand außer den ältesten Wurzeln vordringt, sprudelt diese Quelle seit Anbeginn der Zeit. Ihr Wasser ist kein gewöhnliches Wasser; es fließt wie flüssiges Licht und nährt den Wald mit der Essenz des Lebens. Jeder Tropfen, der aus der Quelle entspringt, trägt den Atem der Erde und den Gesang der Sterne in sich. Wenn die Quelle versiegt, erlischt das Leben im Wald, doch mit dem Kristall in deiner Hand kannst du den Fluss lenken und das ewige Gleichgewicht bewahren.“
Lorgo nahm den Kristall behutsam an sich und kehrte ins Dorf zurück. Von diesem Tag an war er nicht mehr der Zwerg mit dem seltsamen langen Arm, sondern der Hüter des Waldes, der die Kräfte der Natur in seiner Hand hielt. Die anderen Zwerge respektierten und bewunderten ihn, und Lorgo fand endlich seinen Platz in der Gemeinschaft.
Doch Lorgo vergaß nie die Worte des alten Baumes und nutzte seine Gabe weiterhin, um dem Wald und seinen Bewohnern zu helfen. Sein langer Arm, einst eine Quelle des Spotts, war nun ein Symbol der Hoffnung und der Verbindung zwischen den Zwergen und dem uralten Wald.
Und so lebte Lorgo, der Zwerg mit dem langen Arm, glücklich und zufrieden, während die Bäume um ihn flüsterten und die Waldgeister über ihn wachten.